DÖSGHO Jahrestagung 2013
18. bis 22. Oktober, Wien
Multiples Myelom – Interview mit Prim. Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig
Myelodysplastische Syndrome – Interview mit Univ. Prof. Dr. Michael Pfeilstöcker
Schlüsselwörter: Akt, Alkylantien, Aminopeptidasen, Anämie, Anti-CD38-Antikörper, Anti-CS1-Antikörper, Anti-PD-1-Antikörper, ARRY-520, Azacytidin, Bendamustin, Bluttransfusion, Bortezomib, Carfilzomib, Compliance, Daratumumab, del(5q), Dinaciclib, EGFR, Eisenüberladung, Elotuzumab, Entinostat, Erythropoietin, Farnesyltransferase, Glutathion, HDAC-Inhibitor, Histon-Deacetylase-Inhibitor, Hochdosistherapie , hypomethylierende Substanzen, Immunmodulatoren, Impfungen, IPSS, IPSS-R, Lebensqualität, Lenalidomid, MDS, MDS-Microenvironment, MDS-Stammzelle, Mek, Melphalan, monoklonale Antikörper, mTOR, multiples Myelom, myelodysplastisches Syndrom, p38 MAPK, P53-Deletion, Panobinostat, personalisierte Medizin, PI3-Kinase, PLK1, Pomalidomid, Pracinostat, Risikominimierungsprogramm, Stammzelltransplantation, Supportive Care, TGF-ß, Thrombembolien, Thromboseprophylaxe, Vorinostat
Experteninterviews von der DÖSGHO Jahrestagung 2013 in Wien
Die Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie ist auch im Jahr 2013 wieder auf reges Interesse bei über 5.000 teilnehmenden Expertinnen und Experten gestoßen. In mehr als 200 Veranstaltungen wurden aktuelle Daten aus den unterschiedlichen Bereichen der Hämatologie und Onkologie präsentiert und diskutiert.
Anlässlich des Kongresses ist es uns gelungen, mit Herrn Prim. Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig und Herrn Univ. Prof. Dr. Michael Pfeilstöcker zwei ausgewiesene Experten für Interviews zu den Themenbereichen "multiples Myelom" und "myelodysplastische Syndrome" zu gewinnen. Wir sprachen über die neuen Entwicklungen in Diagnostik und Therapie und darüber, was die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die tägliche Arbeit mit den Patienten bedeuten können.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und nützliche Impulse für Ihre praktische Arbeit in Klinik und Praxis.
Ihr Team von hematooncology.com
Multiples Myelom – Interview mit Prim. Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig
Prim. Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig
Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung
Zentrum für Onkologie und Hämatologie
im Wilhelminenspital in Wien
Prof. Dr. Ludwig: Das hängt vom Standpunkt ab. Grundsätzlich ist auch mit den neuen Erkenntnissen zur Biologie des multiplen Myeloms nur schlecht differenzierbar, welcher Patient nun genau von welchem Vorgehen profitiert. Deshalb kann man einerseits die Meinung vertreten, dass jeder Patient eine intensive Therapie mit den besten derzeit zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten erhalten soll. Andererseits kann man auch argumentieren, dass ein "good-risk"-Patient eine geringere Therapieintensität braucht und deshalb mit einer weniger aggressiven Therapie behandelt werden sollte als ein "poor-risk"-Patient. Das hat aber den großen Nachteil, dass gerade die "good-risk"-Patienten von intensiven Therapien profitieren, während wir für die "poor-risk"-Patienten derzeit keine zufriedenstellenden Behandlungsoptionen haben.
Mein Fazit ist daher, dass es wahrscheinlich vernünftiger ist, allen Patienten das bestmögliche intensive Therapiekonzept anzubieten. Das kann in der Konsequenz verhindern, dass Patienten unterbehandelt werden und in eine schwer kontrollierbare Progression kommen, die zu Komplikationen oder gar zum Tod des Patienten führen kann.
hematooncology.com: Monoklonale Antikörper sind eine neue Substanzklasse für die Therapie des multiplen Myeloms. Wichtige Vertreter sind zum Beispiel Daratumumab und Elotuzumab, weitere Antikörper befinden sich in der Entwicklung. Welche Bedeutung haben die monoklonalen Antikörper für die Therapie des multiplen Myeloms?
Prof. Dr. Ludwig: Im Moment verfügen wir noch nicht über ausreichend Informationen, um diese Frage fundiert beantworten zu können. Allerdings zeigen Studien mit der Kombination aus dem Anti-CS1-Antikörper Elotuzumab mit Lenalidomid eine hohe Remissionsrate bei Patienten mit rezidiviertem/refraktärem multiplem Myelom. Dieses Regime scheint besonders attraktiv, da Lenalidomid kein besonderes Toxizitätsrisiko aufweist und wahrscheinlich zusätzlich zur Anti-Myelomwirkung auch über eine immunstimulierende Wirkung verfügt.
Große Hoffnungen werden auch bei anderen Antikörpern, insbesondere bei Daratumumab, einem Antikörper gegen CD38, gehegt. Daratumumab verfügt über eine direkte Anti-Myelomwirkung und führt als Monotherapie bei etwa einem Drittel der Patienten zu einer beachtlichen Reduktion des Paraproteins.
Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis diese und ähnliche Antikörper in Kombination mit konventionellen Therapieansätzen getestet werden.
hematooncology.com: Hält die Immuntherapie Einzug in die Therapie des multiplen Myeloms?
Prof. Dr. Ludwig: Wie gesagt liegt für die Zukunft unsere Hoffnung in der Etablierung kombinierter Antikörper/Chemotherapie-Regime, die ähnlich wie bei den Non-Hodgkin-Lymphomen zur Standardtherapie werden könnten.
Eine weitere Option besteht in der direkten Stimulierung des Immunsystems. Bisher blieben derartige Therapiestrategien praktisch wirkungslos. Mittlerweile wurden neue Methoden entwickelt, mit denen Inhibitoren des T-Zell-Systems blockiert werden können, zum Beispiel durch eine Behandlung mit Anti-PD-1-Antikörpern. Ob dieser Ansatz bei hämatologischen Tumoren erfolgsversprechend sein wird, ist derzeit unklar – denkbar wäre es. Persönlich glaube ich, dass das mit zunehmendem Lebensalter schwächer werdende Immunsystem die wichtigste Ursache für die altersabhängige Verkürzung der Überlebenszeit ist. Eine Augmentation des eigenen Immunsystems durch Neutralisierung altersbedingter Blockaden scheint mir daher eine interessante Möglichkeit, um die Therapieresultate zu verbessern – vor allem bei den älteren Patienten.
Eine weitere denkbare Option sind Impfungen mit Myelom-spezifischen Antigenen. Hier wurden Versuche mit dendritischen Zellen unternommen, die mit Antigenen beladen waren. Diese Therapieansätze haben aber bislang keine überzeugenden Resultate erbracht. Dies könnte sich durch gleichzeitigen Einsatz von Impfprogrammen und Inhibitoren der T-Zellaktivierung in Zukunft ändern.
hematooncology.com: Zur Therapie des multiplen Myeloms sind eine Reihe neuer, hochaktiver Substanzen zugelassen oder werden in naher Zukunft zugelassen. Ist die Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation überhaupt noch notwendig?
Prof. Dr. Ludwig: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Hochdosistherapie über kurz oder lang bei der Behandlung des multiplen Myeloms keine – oder nur eine untergeordnete – Rolle spielen wird. Denn die Hochdosistherapie ist eine anachronistische Therapie, die vor 30 Jahren erstmals eingesetzt wurde, weil damals nichts Besseres zur Verfügung stand. Die Hochdosistherapie führt zu einem längeren progressionsfreien Überleben und in den meisten Studien auch zu einer Verlängerung des Gesamtüberlebens. Allerdings muss bei der Bewertung dieser Studien berücksichtigt werden, dass im konventionellen Behandlungsarm nur die "alten", weniger effektiven Substanzen zum Einsatz kamen. Selbst in einer aktuellen Vergleichsuntersuchung zwischen Hochdosistherapie (2 x Melphalan 200 mg) und konventioneller Behandlung mit MPR (Melphalan/Prednison/Revlimid) wurde im konventionellen Arm nur Lenalidomid ohne einen Proteasominhibitor eingesetzt und damit nicht das gegenwärtig verfügbare Arsenal ausgenutzt. Dementsprechend wurde nicht nur eine signifikante Verlängerung des PFS sondern auch ein Trend für ein längeres Gesamtüberleben im Hochdosisarm festgestellt. Hier wäre eine Erweiterung des konventionellen Arms mit einem Proteasominhibitor wie z. B. Bortezomib angezeigt gewesen.
Außerdem soll betont werden, dass bereits mit dem "alten" Transplantationsschema, welches zumeist mit einer VAD-Induktionstherapie, gefolgt von Hochdosistherapie mit Melphalan 200 mg, durchgeführt wurde, bei etwa 20 % der jüngeren Patienten (unter 50 Jahre) eine langdauernde Remission erzielt wurde, die quasi mit einer operativen Heilung gleichzusetzen ist. Und dies alles ohne neue Medikamente. Mit dem Einsatz der neuen Substanzen wird dieser Prozentsatz noch höher werden. Bei den älteren Patienten funktioniert das jedoch leider noch nicht im gewünschten Maße.
hematooncology.com: Therapie des rezidivierten/refraktären multiplen Myeloms mit Pomalidomid (in Europa und USA zugelassen) und Carfilzomib (in den USA zugelassen): Wie verändern diese beiden Substanzen die Therapie und was bedeutet das für die Patienten?
Prof. Dr. Ludwig: Wenn sich bestätigt, was so klar in der MM-003-Studie gezeigt wurde, nämlich dass Pomalidomid bei Lenalidomid- und Bortezomib-refraktären Patienten wirksam ist, dann ist das phänomenal und wir haben eine neue Option, um das Gesamtüberleben von Patienten mit multiplem Myelom zu verbessern.
Auch Carfilzomib ist eine vielversprechende Substanz, die besser verträglich ist als Bortezomib. Es ist nicht neurotoxisch und vielleicht sogar etwas wirksamer.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die genannten neuen Akteure wirksam und gut verträglich sind und die Behandlungsergebnisse beim multiplen Myelom verbessern werden. Von einem Durchbruch kann allerdings nicht gesprochen werden, wohl aber von einer Verbesserung der Therapieoptionen.
hematooncology.com: Gegenüberstellung Pomalidomid und Carfilzomib: Wie ist der Stellenwert dieser beiden Substanzen bei der Therapie des rezidivierten/refraktären multiplen Myeloms im Vergleich?
Prof. Dr. Ludwig: Beide Substanzen haben ihren Platz. Sowohl immunmodulierende Substanzen wie Pomalidomid als auch der neue Proteasominhibitor Carfilzomib sind für die Therapie des multiplen Myeloms von großer Bedeutung. Vergleichsuntersuchungen über die Wirksamkeit der beiden Medikamente liegen bisher nicht vor. Unklar ist auch die optimale Therapiedauer. Beim Rezidiv empfehlen die meisten Experten eine Fortsetzung der Behandlung bis zum neuerlichen Progress bzw. bis zum Auftreten von nicht tolerablen Nebenwirkungen. Mit Daten gut belegt ist diese Empfehlung allerdings nicht. Bei neuerlichem Rezidiv empfiehlt sich wenn möglich ein Wechsel der Substanzklasse.
hematooncology.com: Was werden aus Ihrer Sicht die wichtigsten Entwicklungen und Neuzulassungen des nächsten Jahres sein?
Prof. Dr. Ludwig: Als wichtigste Entwicklungen sind aus meiner Sicht vor allem vier Substanzen zu nennen.
Zum einen der oben genannte Anti-CD38-Antikörper Daratumumab, für den bereits eine respektable Wirksamkeit als Monotherapie nachgewiesen wurde. Zuvor sollte allerdings Elotuzumab, der Antikörper gegen CS1, Marktreife erreichen.
Von den anderen derzeit in klinischer Evaluation befindlichen Substanzen möchte ich Dinaciclib erwähnen, einen Inhibitor zyklinabhängiger Kinasen, der durch eine Suppression der ribosomalen Phosphorylierung zur Apoptose von Tumorzellen führt. Erste Ergebnisse mit dieser Substanz sind sehr vielversprechend, auf weitere klinischen Daten bin ich sehr gespannt.
Darüber hinaus möchte ich auf ARRY-520 hinweisen, einen Kinesin-Spindelprotein-Inhibitor, der die Zellteilung hemmt. Auch hier liegen bereits Wirksamkeitsdaten vor, die auf eine klinische Wirkung einer Monotherapie hinweisen.
Eine ganze Reihe weiterer Substanzen befindet sich momentan in der klinischen Entwicklung, eine Beurteilung über deren zukünftigen Stellenwert ist jedoch momentan schwierig.
hematooncology.com: Was tut sich auf dem Feld der Primärtherapie? Gibt es neue Ansätze, die realisiert werden können?
Prof. Dr. Ludwig: Carfilzomib wird sich einen Platz in der Primärtherapie erobern, auch Pomalidomid wird in früherer Krankheitsphase getestet werden und schließlich könnten die neuen oralen Proteasominhibitoren die parenteral zu verabreichenden verdrängen.
Neu ist darüber hinaus, dass Patienten mit "high-risk" smoldering-myeloma früher therapiert werden sollen. Dies gilt insbesondere für Patienten mit "ultra-high-risk"-SMM, wobei die Definition dieser Patienten im Fluss ist. Patienten mit "intermediate" oder "low-risk" smoldering-myeloma sollte man lediglich regelmäßig kontrollieren.
hematooncology.com: Angesichts der vielen neuen Substanzen (bereits zugelassene wie Pomalidomid und Carfilzomib oder Substanzen, die sich im Stadium der fortgeschrittenen Entwicklung befinden): Welchen Stellenwert hat Bendamustin?
Prof. Dr. Ludwig: Bendamustin ist ein Dinosaurier, der wieder zum Leben erweckt wurde. Ich bin der Meinung, dass diese Substanz für das multiple Myelom nicht weiter entwickelt wird, denn dazu müsste die Substanz in früher Therapielinie geprüft werden, was meines Erachtens aus Kostengründen unwahrscheinlich ist. Somit wird Bendamustin ein Kombinationspartner für die Rezidivtherapie bleiben.
Die Substanz ist jedoch unter anderem deshalb attraktiv, weil sie auch bei Patienten mit einer p53-Deletion wirksam ist. Wir haben vor kurzem eine Studie mit Bendamustin/Bortezomib/Dexamethason beendet und damit Remissionsraten von 61 % und bei Einschluss von Patienten mit "Minor Response“ sogar von 71 % erreicht. Dies gilt auch für Patienten mit zytogenetisch definiertem Hochrisiko.
Auch ist zu überlegen, ob in Zukunft noch ein Alkylans als Backbone in der Erstlinientherapie gegeben werden soll. Am ehesten ist das bei den älteren Patienten sinnvoll, während Alkylantien zur Induktionstherapie bei jungen Myelompatienten kaum noch eingesetzt werden. Bei den älteren Patienten hingegen stellt Melphalan nach wie vor das Rückgrat für viele Kombinationstherapien dar. Als Beispiele möchte ich hier MPT (Melphalan/Prednison/Thalidomid) und VMP (Bortezomib/Melphalan/Prednison) nennen.
hematooncology.com: Die Substanzklasse der Histon-Deacetylase-Inhibitoren wie Vorinostat wird schon länger untersucht, die Daten zu den Ergebnissen sind aber durchwachsen. Kann man die Histon-Deacetylase-Inhibitoren abschreiben oder ist weiter mit ihnen zu rechnen?
Prof. Dr. Ludwig: Beim multiplen Myelom muss man schon ein großer Optimist sein, um zu erwarten, dass für Histon-Deacetylase-Inhibitoren noch Nischen gefunden werden, in denen sie von Nutzen sind. Ich persönlich sehe die Situation in dieser Hinsicht nicht sehr optimistisch. Allerdings können Histon-Deacetylase-Hemmer bei anderen Erkrankungen eine Rolle spielen, zum Beispiel bei den T-Zell-Lymphomen oder bei myelodysplastischen Syndromen – also dort, wo die Acetylierung Gene blockt, die für die Tumorsuppression wichtig sind.
hematooncology.com: Es gibt eine neue Risiko-Stratifizierung der International Myeloma Working Group (IMWG). Hat sich für Patienten mit speziellem Risikoprofil, zum Beispiel mit Niereninsuffizienz oder Hochrisiko-Zytogenetik, etwas Neues getan?
Prof. Dr. Ludwig: Um die klinischen Implikationen der Risikostratifizierung beurteilen zu können, benötigen wir prospektive Studien, in denen die Patienten nach ihrem Risiko stratifiziert werden, und "neue“ im Vergleich zu "alten" Therapiekonzepten verglichen werden. Das würde die Frage klären, ob eine nach Risikoklassen differenzierte Therapie sinnvoll ist. Solange wir diese Studien nicht haben, ist es eine Frage des persönlichen Standpunktes und der Interpretation der aktuellen Datenlage – und diese Datenlage kann sehr unterschiedlich interpretiert werden. Wie bereits ausgeführt profitieren "good-risk"-Patienten ganz besonders von den neuen Therapien. Würde diesen Patienten die volle Therapiepalette vorenthalten werden, so könnte sich dies negativ auf das Gesamtergebnis auswirken. Gleichwohl ist mir bewusst, dass ein Großteil dieser "good-risk"-Patienten mit einer weniger intensiven Therapie gut auskommt. Leider haben wir momentan keine prädiktiven Marker, die es uns erlauben, diese Patienten ausreichend gut zu differenzieren.
Für die Behandlung von Myelompatienten mit Niereninsuffizienz wird vor allem eine hohe Kompetenz des Behandlungsteams gefordert. Die zugrunde liegende Ursache der Niereninsuffizienz ist rasch und sorgfältig abzuklären. Zu den häufigen Pathologien zählen glomeruläre Sklerose, nichtsteroidale Antirheumatika, nephrotoxische Antibiotika, Dehydratation, Hyperkalzämie, ionische Kontrastmittel, Leichtketten und andere. Man darf also nicht den Fehler machen, jede Niereninsuffizienz sofort dem Myelom zuzuschreiben. Wenn allerdings eine myelombedingte Niereninsuffizienz vorliegt, dann sollten Proteasomeninhibitoren in Kombination mit hochdosiertem Dexamethason mit oder ohne IMiD eingesetzt werden. Natürlich ist auch der Einsatz von Lenalidomid möglich, hier ist allerdings die Dosis sorgfältig an die glomeruläre Filtrationsrate anzupassen.
hematooncology.com: Sehr geehrter Herr Professor Ludwig, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Das Interview führte Dr. med. Christofer Coenen, medizinwelten-services Stuttgart.
Myelodysplastische Syndrome – Interview mit Univ. Prof. Dr. Michael Pfeilstöcker
Univ. Prof. Dr. Michael Pfeilstöcker
3. Medizinische Abteilung mit Onkologie
Hanusch-Krankenhaus
Wien
hematooncology.com: Die Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische ist der jährliche Höhepunkt für Hämatoonkologen im deutschsprachigen Raum. Was sind aus Ihrer Sicht die Highlights des diesjährigen Kongresses beziehungsweise des letzten Jahres zum Thema MDS?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Bei den wissenschaftlichen Präsentationen dieses Kongresses handelt es sich im Wesentlichen um Arbeiten, die sich der Grundlagenforschung widmen, zum Beispiel zu Diagnostik und Prognosefaktoren. Ob sich diese Erkenntnisse, die alle auf sehr hohem Qualitätsniveau präsentiert wurden, in Zukunft auf die Therapie auswirken, ist zwar derzeit noch offen, aber sie sind sicherlich Hypothesen-generierend und können Einfluss auf zukünftige klinische Studien haben.
Ein Teil der präsentierten Untersuchungen betrifft begleitende Untersuchungen zu laufenden Studien. Dabei kristallisiert sich heraus, dass die Bestimmung von P53 zukünftig vermutlich eine große Rolle spielen und auch eine klinische Konsequenz haben wird.
Zusätzlich war der Kongress natürlich geeignet, die Neuzulassungen und die Ergebnisse der großen klinischen Studien, wie sie auf dem MDS-Kongress im Mai oder dem letzten ASH-Kongress im Dezember präsentiert wurden, zu diskutieren und Empfehlungen für die Umsetzung in die tägliche Praxis zu erarbeiten.
hematooncology.com: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den auf dem DÖSGHO gezeigten Daten und welchen Einfluss auf die praktische Tätigkeit am Patient sehen Sie?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Die wissenschaftlichen Präsentationen befassten sich mit Grundlagenthemen, die derzeit noch keinen Einfluss auf die praktische Tätigkeit haben werden. Das wird wohl erst in der Zukunft interessant sein. Die Diskussionen zur Umsetzung der aktuellen Daten des letzten Jahres in die tägliche Praxis, zum Beispiel wann im Verlauf der Erkrankung welche Substanz eingesetzt werden soll und bei welchen Patienten, haben hingegen durchaus Praxisrelevanz und werden sich in der täglichen Arbeit niederschlagen.
hematooncology.com: Vielen Dank für diese Information. Wir kommen später noch darauf zu sprechen, was das konkret bedeutet.
hematooncology.com: Neue Langzeitdaten zeigen: Die Prognose von Patienten mit myelodysplastischen Syndromen hat sich im Lauf der Jahre verbessert. Mittlerweile gibt es deutsch-österreichische Registerdaten über einen Zeitraum von 30 Jahren, die eine Verbesserung der Situation von MDS-Patienten innerhalb dieses Zeitraums zeigen – insbesondere bei Hochrisiko-Patienten. Wie stellt sich diese Entwicklung aus Ihrer Sicht dar? Können sie eine Prognoseverbesserung für MDS-Patienten aus Ihrer praktischen Erfahrung heraus bestätigen?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Das sind sehr interessante Ergebnisse, die hier auf dem Kongress präsentiert und intensiv diskutiert wurden. Der Eindruck aus der Praxis geht ebenfalls in diese Richtung. Ein Vergleich von Kohorten über die letzten 30 Jahre hat zwar Limitationen, da wir es hier mit Registerdaten zu tun haben und wir nicht wissen, welche Patienten tatsächlich berücksichtigt wurden. Auch sind die neuen Therapien unterrepräsentiert, da diese noch nicht so lange verfügbar sind und die Langzeitüberleber in der Beobachtungsdauer fehlen.
Wir haben jedoch zusätzliche Hinweise darauf, dass die Daten die Realität richtig wiedergeben. So gibt es einerseits klinische Studien, die einen Überlebensvorteil belegen, zum Beispiel unter Azacytidin und bei Lenalidomid-Respondern, andererseits ist über die Jahre auch die Supportive Care besser geworden. Hinzu kommt, dass die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Patienten geführt haben – ein weiterer wichtiger Faktor bei der Therapie myelodysplastischer Syndrome.
hematooncology.com: Eine wichtige supportive Therapieform beim MDS sind Bluttransfusionen. Was bedeuten Bluttransfusionen für die Patienten?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Mit Bluttransfusionen kann lediglich supportiv und nicht kausal behandelt werden. Dabei wird zum einen das Blutbild kurzfristig und schubhaft verändert. Das heißt, der Patient wird langsam anämisch und immer mehr symptomatisch, dann wird der Hb-Wert kurzfristig angehoben und im Anschluss sinkt er wieder ab. Mit Erythropoietin, hypomethylierenden Substanzen und Immunmodulatoren kann der Hämoglobinwert auf Dauer angehoben werden.
Zum anderen ist es für die Patienten ziemlich aufwändig, Bluttransfusionen in Anspruch zu nehmen. Sie müssen in die Klinik fahren oder in die Praxis, um dort ihre Bluttransfusionen zu erhalten.
Und schließlich sind Bluttransfusionen auch mit Risiken behaftet: einerseits die bekannten Risiken wie Immunreaktionen und Infektionen. Und andererseits das Risiko der Eisenüberladung, die dann bei chronisch transfundierten MDS-Patienten zusätzlich medikamentös behandelt werden muss.
hematooncology.com: Hypomethylierende Substanzen und Immunmodulation – was bedeuten diese therapeutischen Optionen für die Therapie des MDS?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Generell sind das die ersten Substanzen, die ihren Ansatz am Pathomechanismus der Erkrankung haben und damit etwas ganz anderes sind als Supportive Care oder die doch sehr aggressive Therapieform der Chemotherapie mit Stammzelltransplantation.
Hypomethylierende Substanzen und Immunmodulation haben sich als wirksam erwiesen, haben entsprechende Zulassungen bekommen und sind etabliert. Neben dem Vorteil, dass die Patienten eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erfahren, führt eine Therapie mit diesen Substanzen auch zu einem Überlebensvorteil der Patienten.
hematooncology.com: Wie hat sich die Therapie durch die Einführung von hypomethylierenden Substanzen und Immunmodulatoren für die Patienten geändert, zum Beispiel hinsichtlich Prognose, Lebensqualität bzw. "Leben mit MDS"?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Wie gesagt hat sich die Prognose im Sinne einer Verlängerung der Überlebenszeit verbessert und auch die Lebensqualität der Patienten mit myelodysplastischen Syndromen ist durch die Verfügbarkeit dieser Substanzen angestiegen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass es auch bei denjenigen Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität kommt, bei denen "nur" eine Verbesserung der Hämatopoese im Sinne einer Tranfusionsunabhängigkeit erzielt werden kann, ohne wesentliche Reduktion der Blastenanzahl im Knochenmark.
Wie wir im Zuge der Entwicklung dieser Therapien gelernt haben, zeigt sich auch hinsichtlich des Überlebens bereits ein Vorteil bei Patienten, bei denen es zu einer Verbesserung der Hämatopoese im Sinne eines hematologic improvement kommt – auch ohne komplette Remission im Knochenmark.
hematooncology.com: Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die derzeit verfügbaren Therapieoptionen? Wie kann beispielsweise die Motivation von Patienten für eine ausreichend lange Therapie mit Azacytidin gelingen?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Seitdem uns die neuen Therapien zur Verfügung stehen, haben wir einiges gelernt. Zum Beispiel, dass wir bei Azacytidin Geduld brauchen, bis die Patienten ansprechen. Dass wir also die Therapie nicht zu früh abbrechen dürfen, dass wir die Patienten während der Zeit bis zum Ansprechen mit Supportive Care therapieren müssen und auch die Nebenwirkungen, die meist vorübergehend sind, entsprechend zu behandeln sind. Das ist für die Patienten am Anfang schwierig. Deshalb muss ihnen erklärt werden, warum weiterbehandelt wird, auch wenn sich das Blutbild nach einem oder zwei Zyklen noch nicht gebessert hat. Sobald sich das Blutbild gebessert hat, sind die Patienten oft sehr motiviert, die Behandlung fortzuführen.
Glücklicherweise ist es in einigen Fällen so, dass die Behandlung über eine sehr lange Zeit durchgeführt werden kann, auch über mehrere Jahre. In diesen Fällen stellen viele Patienten nach einiger Zeit die Frage, ob die Behandlung überhaupt noch benötigt wird. Wir haben jedoch gelernt, dass die Patienten bei Verlängerung des Intervalls, Dosisreduktion oder Beendigung der Therapie das Ansprechen oft sehr rasch verlieren und auch auf eine Wiederaufnahme der Therapie – zumindest beim Azacytidin ist es so – nicht mehr ansprechen. Das muss den Patienten vermittelt werden. Möglicherweise wird die Entwicklung eines oralen Azacytidins eine Verbesserung der Compliance bewirken, wenn die Patienten nicht mehr alle vier Wochen sieben Tage subkutane Spritzen benötigen.
hematooncology.com: Ihr Vortrag bei der MDS-Fortbildung hier auf dem Kongress hatte zum Thema: "Hypomethylierende Substanzen und Immunmodulation – Was kommt danach?" Was halten Sie für die vielversprechendsten Ansätze?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Einerseits kann man versuchen, die verfügbaren Substanzen zu kombinieren. Hier ist zunächst abzuklären, ob Kombinationen toxischer sind als die Einzelsubstanzen. Was man sich jedoch erhofft, ist eine Verbesserung der Responseraten und eine Verkürzung der Responsegeschwindigkeit, also der Zeit bis zum Ansprechen. Das muss jedoch erst in klinischen Studien gezeigt werden, momentan ist es lediglich eine Hypothese. Letztlich ist das Gesamtüberleben der wesentliche Punkt für die Patienten. Das heißt, wir brauchen Phase-III-Studien, die diese interessanten Ansätze belegen.
Der zweite Punkt, der eher die Niedrigrisikopatienten betrifft und der ebenfalls noch nicht geklärt ist, ist die Frage nach einer sequentiellen Therapie. Welche Therapie gibt man zuerst, welche in weiterer Folge? Welche Therapie für den einen Patienten zuerst, welche für den anderen? Sollte einem Patienten, der ein del(5q)-MDS hat, von vornherein Lenalidomid gegeben werden? Kann ich etwas anderes machen? Wie profitiert er davon? Das sind einige Fragen, die wir uns zu den bereits verfügbaren Substanzen stellen müssen.
Zusätzlich gibt es eine Reihe von neuen Entwicklungen, die mögliche Optionen sein können, wenn hypomethylierende Substanzen und Immunmodulation nicht mehr greifen. Histon-Deacetylase-Inhibitoren wie Entinostat oder Vorinostat haben sich in der Monotherapie bisher allerdings nicht bewährt. In diesem Zusammenhang ist interessant zu erwähnen, dass wir aus theoretischer Sicht erwartet hätten, dass eine Therapie mit Histon-Deacetylase-Inhibitoren gleich anspricht wie bei hypomethylierenden Substanzen. Aber offensichtlich besteht hier biologisch ein großer Unterschied. Substanzen wie Panobinostat oder Pracinostat werden allerdings auch in Kombinationstherapien nach wie vor untersucht.
Schließlich sollte die Vielzahl molekularer Prozesse erwähnt werden, die bei MDS-Patienten nachgewiesen wurden und für die es in der Zwischenzeit eine Reihe von "targeted drugs" gibt, die auch getestet werden. Mögliche interessante Targets sind Signaltransduktionswege (z. B. EGFR, TGF-ß, mTOR, Farnesyltransferasen) und Tyrosinkinasen (z. B. mek, p38 MAPK, PLK1, PI3-Kinase, Akt), Glutathion, Aminopeptidasen, darüber hinaus das MDS-Microenvironment sowie letztendlich die MDS-Stammzelle.
Myelodysplastische Syndrome sind sehr heterogen, und es gibt kaum einen Patienten, der das gleiche Muster an genetischen Veränderungen hat wie ein anderer. Wie uns das "next generation sequenzing“ zeigt, hat wirklich jeder Patient seine eigene Erkrankung. Eine der großen Herausforderungen wird daher sein, diejenigen Patienten zu identifizieren, die von einer bestimmten Therapie profitieren. Und das wird in der klinischen Praxis sehr schwierig werden. In klassischen Phase-I-/Phase-II-Studien werden neue Substanzen zur MDS-Therapie allgemein untersucht, mit Ansprechraten von vielleicht 10 bis 30 Prozent. Möglicherweise ist die Ansprechrate in der nächsten Phase noch geringer. Das Problem ist jedoch nicht, dass die Substanzen schlecht sind, sondern dass nicht vorhergesagt werden kann, welcher Patient nun auf welche Behandlung anspricht.
hematooncology.com: Was ist die wichtigste offene Forschungsfrage beim MDS und wo besteht der größte Bedarf an Neuentwicklungen?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Der größte Bedarf besteht darin, Möglichkeiten einer personalisierten Medizin für MDS-Patienten zu entwickeln.
hematooncology.com: Letztes Jahr wurde Lenalidomid zur Therapie von Patienten mit transfusionsabhängiger Anämie bei myelodysplastischem Syndrom mit Niedrig- oder Intermediär-1-Risiko in Verbindung mit einer isolierten Deletion 5q als zytogenetische Anomalie zugelassen, wenn andere Behandlungsoptionen nicht ausreichend oder nicht angemessen sind. Gibt es aus Ihrer Sicht einen therapeutischen Bedarf in dieser Indikation?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Keine Frage, der therapeutische Bedarf besteht. Er beruht einerseits darauf, dass Patienten mit diesem Indikationsprofil im Vergleich zur gesunden Normalbevölkerung eine verkürzte Überlebenszeit haben. Das heißt, es gibt das Ziel einer Überlebensverlängerung. Außerdem sind diese Patienten oft schwer anämisch und transfusionsbedürftig. Wir haben vorhin darüber gesprochen, was das für die Patienten heißen kann. Wenn nun die Möglichkeit besteht, bei diesen Patienten eine Transfusionsunabhängigkeit zu erreichen, dann bedeutet das eine starke Verbesserung der Lebensqualität, zumal Lenalidomid ein relativ geringes Nebenwirkungsprofil besitzt.
hematooncology.com: Was können mögliche Therapiealternativen zu Lenalidomid in dieser Indikation sein?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Eine ausschließlich supportive Therapie wie zum Beispiel die Gabe von Bluttransfusionen ist, wie ich eben bereits erwähnt habe, mit gewissen Limitationen verbunden.
Erythropoese-stimulierende Faktoren könnten eine Option sein. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten mit del(5q)-MDS darauf ansprechen, deutlich geringer als bei anderen MDS-Patienten – und bei diesen ist es wiederum geringer als bei anderen Tumorpatienten.
Eine potentielle Möglichkeit ist die sequenzielle Therapie. Wenn allerdings eine andere Therapie durchgeführt wird, bevor Lenalidomid zum Einsatz kommt, kann dem malignen Klon möglicherweise die Zeit gegeben werden, zusätzliche Aberrationen zu entwickeln mit der Folge eines Progresses. Vermutlich ist es daher besser, frühzeitig mit Lenalidomid zu beginnen, sobald die Indikation im Sinne einer symptomatischen Anämie gegeben ist.
hematooncology.com: Welche Erfahrungen zur Anwendung von Lenalidomid bei MDS-Patienten haben Sie gemacht und welche Besonderheiten sind zu beachten?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Grundsätzlich sind die Patienten gut auf diese Substanz einstellbar. Mit 5 und 10 mg wurden zwei Dosierungen randomisiert gegen Placebo getestet. Die Ansprechraten waren in der 10 mg-Gruppe etwas höher, was zur Zulassung der 10-mg-Dosierung durch die EMEA geführt hat.
Treten zu Beginn der Behandlung Nebenwirkungen wie beispielsweise eine Thrombozytopenie auf, kann die Dosis reduziert und nach einiger Zeit wieder erhöht werden. Für Patienten mit Leber- und Niereninsuffizienz können die entsprechenden Informationen der Fachinformation entnommen werden, in der Praxis ist das sehr gut handhabbar. Ein mögliches Problem, das wir von Lenalidomid vor allem bei der Indikation "multiples Myelom“ kennen, sind thromboembolische Komplikationen. Diese werden bei Myelompatienten sehr viel häufiger gesehen, was möglicherweise – neben der Grunderkrankung selbst – daran liegen kann, das Lenalidomid beim multiplen Myelom in Kombination mit Dexamethason zum Einsatz kommt, das ebenfalls thrombogen wirkt. Bei MDS-Patienten ist die Thromboseneigung unter Lenalidomid geringer. Bei bekannten Risikofaktoren oder nach thromboembolischen Ereignissen sollten die Patienten jedoch eine Thromboseprophylaxe erhalten. Bei Risikofaktoren erhalten die Patienten bei uns in der Regel eine Thromboseprophylaxe mit ASS 100 mg. Wenn der Patient eine Vorgeschichte mit Lungenembolie oder tiefer Venenthrombose hat, dann setzen wir eher niedermolekulares Heparin ein. Wenn es unter Lenalidomid zu einem thromboembolischen Ereignis kommt, dann pausieren wir die Behandlung und setzen sie später unter antithrombotischem Schutz meist wieder fort.
Und schließlich haben wir bei Lenalidomid – wie bei allen IMiDS – die Besonderheit, dass aufgrund des teratogenen Potentials der Substanz das Risikominimierungsprogramm durchzuführen ist. Dabei handelt es sich um eine behördliche Vorgabe zur Dokumentation der erfolgten Aufklärung zum Management dieses speziellen Risikos.
hematooncology.com: Welche MDS-Patienten sehen Sie in der beschriebenen Indikation als besonders geeignet an für eine Therapie mit Lenalidomid?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Die Substanz ist prinzipiell gut verträglich, bei einzelnen Patienten kann es – wie auch in den Studien beschrieben – zu Nebenwirkungen wie zum Beispiel Hautausschlägen kommen. Patienten in der zugelassenen Indikation sind daher sicher gut für eine Behandlung mit Lenalidomid geeignet, auch bei Patienten mit Komorbiditäten kann man die Substanz durchaus einsetzen. Um die Frage beantworten zu können, ob Lenalidomid auch bei anderen Konstellationen einsetzbar ist, zum Beispiel bei mehreren zytogenetischen Aberrationen wie komplexem Karyotyp oder bei high-risk-MDS, dafür ist die Datenlage aus meiner Sicht momentan noch zu gering. Die Anwendung in diesen Fällen sollte daher nur innerhalb klinischer Studien erfolgen. Für Patienten, die kein del(5q) haben, zeigen Daten aus Phase-II-Studien ein geringeres Ansprechen als bei Patienten mit del(5q). Möglicherweise gibt es dennoch Patienten, die davon profitieren, für die uns aber noch die Information zur Auswahl der möglichen Responder fehlt. In der MDS-005-Studie, in die MDS-Patienten ohne del(5q) randomisiert wurden, gab es ein Begleitprogramm, das uns möglicherweise Informationen über bestimmte Markerprofile bei Patienten mit Ansprechen auf Lenalidomid geben wird.
hematooncology.com: Gibt es – abseits der Schwerpunkte dieses Kongresses – neue Entwicklungen, die für Diagnostik und Therapie myelodysplastischer Syndrome relevant sein können?
Prof. Dr. Pfeilstöcker: Wichtig ist sicher die Weiterentwicklung des IPSS-Prognosescores zum IPSS-R-Prognosescore (IPSS-R = Revised International Prognostic Scoring System, Anm. d. Red.) und dessen Anwendung in der klinischen Praxis. Es konnte gezeigt werden, dass dieses neue Prognoseinstrument unter Berücksichtigung präziserer Zytogenetik sowie neuer Cut-off-Werte für Zytopenien und Blasten die Prognoseeinschätzung deutlich verbessert, was auch in unabhängigen Validierungen bestätigt werden konnte. Zusätzlich gilt die prognostische Bedeutung nicht nur für Patienten unter Supportive Care allein, sondern auch für Patienten mit krankheitsmodifizierenden Therapien. Darüber hinaus erlaubt der Score unter Verwendung von sogenannten differentiating features die Verwendung zusätzlicher Parameter wie des Alters zur präziseren Abschätzung der individuellen Prognose. Offene Fragen sind die Interpretation klinischer Studien im Licht des neuen Scores, die Einschätzung der neuen intermediären Risikogruppe als Hoch- oder Niedrigrisiko-MDS und die geplante Integration molekularer Befunde. Jedenfalls ist der IPSS-R ein weiterer Schritt, die Heterogenität des MDS in Behandlungskonzepte zu integrieren.
hematooncology.com: Sehr geehrter Herr Professor Pfeilstöcker, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Das Interview führte Dr. med. Christofer Coenen, medizinwelten-services Stuttgart.