Ein Hoch auf die prospektiv-randomisierte Studie

Dr. med. Jürgen Wehmeyer, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und Onkologie, Münster

03.08.2018 – Soll beim metastasierten Nierenzellkarzinom (metastatic renal cell carcinoma; mRCC) der Primärtumor entfernt werden? In der Regel nicht. Das zeigt die prospektiv-randomisierte CARMENA-Studie, die auf der diesjährigen ASCO-Tagung präsentiert wurde. Die Studie setzt damit nicht nur einen leitlinien- und praxisverändernden neuen Standard, sondern zeigt auch eindrucksvoll, dass Gewissheit nur so lange gewiss ist, wie sie nicht hinterfragt wird.

Eins gleich vorweg: Ich mag Urologen. Sie sind in der Regel kollegial und lustig, man hört neue (Männer-)Witze und wenn ich mir überlege, mit wem ich lieber in den Urlaub fahren würde, den urologischen Kollegen oder so manchem aus meiner leicht humorlos-anankastischen Fachgruppe, fällt mir die Antwort nicht schwer (ausreichende Ausnahmen bestätigen die Regel). Aber in wissenschaftlichen Diskussionen oder auch Tumorkonferenzen ist es nicht immer leicht mit ihnen („Natürlich wird jedes Prostatakarzinom operiert, sonst weiß ich das Stadium doch gar nicht“). Ich erinnere mich an eine urologische Pro- und Kontradiskussion vor einigen Jahren beim DGHO-Kongress zum PSA-Screening, bei der man den Eindruck bekam, die Kontraposition beziehe sich nur auf die Pränataldiagnostik. Aber jetzt gibt es eine tolle urologische Studie.

Worum geht es? Nachdem in den 90er-Jahren, im Zeitalter einer toxischen und meist wirkungslosen Systemtherapie des mRCC (Interferon, Interleukin-2), die primäre Tumornephrektomie auch für Patienten mit systemischem Therapiebedarf akzeptierter Standard war und dieses Vorgehen durch zwei randomisierte Studien auch wissenschaftlich untermauert werden konnte [1, 2], kam mit der Zulassung der besser wirksamen und besser verträglichen Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) die Frage auf, ob das denn im Hinblick auf die neuen systemtherapeutischen Möglichkeiten immer noch so gelte. Die urologisch-internistisch-onkologische Diskussion möchte ich verkürzt (und damit natürlich unvollständig und etwas verzerrt, aber für die nachfolgende Argumentation meiner Meinung nach ausreichend korrekt) so wiedergeben:

Urologe:

„Wir haben reichlich Daten, die uns zeigen, dass Patienten nach einer Tumornephrektomie deutlich länger leben. Schaut nur auf die Analysen von Heng et al. [3]. Der Unterschied ist riesig.“ (Abb. 1)

Abb. 1: Retrospektive IMDC-Datenbankstudie: besseres Überleben bei Nephrektomie bei Patienten mit einem, zwei oder drei IMDC-Risikofaktoren (modifiziert nach [3])

Onkologe:

„Das mag ja sein, aber das sind retrospektive Daten. Der Bias ist beträchtlich, denn ihr operiert nur die ‚Guten‘, nämlich die OP-Fähigen. Die Patienten mit großem Nierentumor und wenig Metastasen-Tumorlast sind in euren OP-Kohorten überrepräsentiert. Damit ist der Vergleich zwischen den Gruppen unfair.“

Urologe:

„Glauben wir nicht. Der Unterschied ist zu groß. Und solange wir das nicht besser wissen, können wir den Patienten angesichts der vorliegenden Ergebnisse die Operation nicht guten Gewissens vorenthalten. Aber damit ihr aufhört zu quengeln, machen wir eine randomisierte Studie.“

Damit war CARMENA geboren. Eine prospektiv-randomisierte Studie, die angelegt war, die Nichtunterlegenheit des konservativen (nichtoperativen) Vorgehens mit alleiniger Sunitinibtherapie zu zeigen. Eine Abweichung von immerhin bis zu 20% zu Ungunsten der alleinigen Sunitinibtherapie wurde (in der sicheren Annahme einer Überlegenheit des operativen Vorgehens?) als noch gleichwertig akzeptiert. Eingeschlossen wurden mit 1:1-Randomisierung in 79 Zentren, überwiegend in Frankreich, 450 Patienten mit mRCC und – besonders wichtig – systemischem Therapiebedarf. Es ging also ausdrücklich nicht um die oligometastasierten Patienten, bei denen durch Primärtumorresektion und Metastasektomie eine R0-Situation erreicht werden kann – hier steht das operative Vorgehen außer jeder Diskussion. Und es ging natürlich auch nicht um die Patienten, die zum Beispiel wegen nicht anders sinnvoll zu beherrschender Schmerzen oder Makrohämaturie palliativ reseziert werden mussten.

Die Frage war: Soll der Patient, zusätzlich zur medikamentösen Therapie – meist mit einem TKI – eine Tumornephrektomie bekommen, obwohl die erkrankte Niere auch erhalten werden könnte?

Die Ergebnisse wurden in der Plenary Session des ASCO-Kongresses 2018 vorgestellt [4].

Und die klare Antwort ist:

  • Die Tumornephrektomie ist nicht überlegen. Die Nichtunterlegenheit des konservativen Vorgehens wurde hochsignifikant festgestellt (Hazard Ratio [HR] = 0,89; 95-%-Konfidenzintervall (95-%-KI] = 0,71–1,10) (Abb. 2).
  • Es gibt einen klaren Trend zu einem besseren progressionsfreien und sogar Gesamtüberleben bei den nicht operierten Patienten – auch wenn die Studie nicht darauf angelegt war, dies zu zeigen.
Abb. 2: CARMENA-Studie: keine Unterlegenheit des konservativen Vorgehens mit Sunitinib bei Patienten mit mRCC (modifiziert nach [4])

Hinzu kommt: Nur 38 von 224 Patienten in der primär nichtoperierten Gruppe wurden im Verlauf noch operiert. Größtenteils nicht wegen lokaler Probleme (19%), sondern zur Prognoseverbesserung bei initial gutem Ansprechen auf die Systemtherapie (81%).

Damit ist klar: Die primäre Tumornephrektomie ist inzwischen die Ausnahme, nicht mehr die Regel. Was sind die Gründe für dieses überraschend klare Ergebnis? Weitere Analysen der Studie bleiben abzuwarten. Eins ist aber schon klar: Eine unerwartete operative Übersterblichkeit ist nicht ursächlich. Die Patienten wurden in erfahrenen Zentren operiert, die 30-Tage-Mortalität ist nicht auffällig. Letztlich muss man sich auch vor Augen führen, dass sich das Nierenzellkarzinom damit nur in die Liste der metastasierten Erkrankungen einreiht (zum Beispiel Kolon-, Rektum-, Mamma- oder Magenkarzinom), bei denen bei Verfügbarkeit einer mehr oder weniger aktiven Systemtherapie die Operation des Primärtumors nur noch dann erfolgt, wenn

  • dadurch tumorassoziierte Symptome gebessert werden können und
  • durch eine komplette Resektion aller Tumormanifestationen bei Oligometastasierung (Kolon, Lunge) eine Chance auf ein Langzeitüberleben besteht.

Das onkologische Weltbild ist damit wieder kohärent und schlüssig. Ein krankes Organ ist für die meisten Patienten eben besser als gar kein Organ. Das scheint auch für die Niere zu gelten.

Was ist das Besondere an CARMENA? Studien, die unmittelbar die tägliche Praxis verändern, gibt es immer wieder. Aber diese Studie reiht sich ein in die großen Untersuchungen mit unerwartetem Ausgang, wie zum Beispiel die CAST-Studie (das Wegbehandeln von asymptomatischen Herzrhythmusstörungen verursacht Übersterblichkeit) oder die WHI-Studie zur Hormonsubstitution (kein positiver Langzeiteffekt, signifikant erhöhtes Mammakarzinomrisiko). Aus diesen Studien lernen wir besonders viel. Unter anderem ermahnen sie uns, scheinbaren Gewissheiten nicht zu sehr zu vertrauen. Die prospektiv-randomisierte Studie ist und bleibt da, wo sie möglich ist, der Goldstandard zur Generierung medizinischen Wissens. Das hat CARMENA erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Und auch die urologischen Autoren der Studie haben das akzeptiert, mit dem für sie typischen Humor:

Bildnachweis: "Shooting yourself in the foot": © IgorZakowski/iStockphoto

Urologen halt....

Aber Urlaub mach ich dann doch lieber mit meiner Frau.

Quellen

  1. Flanigan RC et al. Nephrectomy followed by interferon alfa-2b compared with interferon alfa-2b alone for metastatic renal-cell cancer. N Engl J Med 2001; 345: 1655-1659. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11759643
  2. Mickisch GH et al. Radical nephrectomy plus interferon-alfa-based immunotherapy compared with interferon alfa alone in metastatic renal-cell carcinoma: a randomised trial. Lancet 2001; 358: 966-970. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11583750
  3. Heng DY et al. Cytoreductive nephrectomy in patients with synchronous metastases from renal cell carcinoma: results from the International Metastatic Renal Cell Carcinoma Database Consortium. Eur Urol 2014; 66: 704-710. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24931622
  4. Mejean A et al. CARMENA: Cytoreductive nephrectomy followed by sunitinib versus sunitinib alone in metastatic renal cell carcinoma—Results of a phase III noninferiority trial. Presented at Plenary Session Including the Science of Oncology Award and Lecture, ASCO 2018, Chicago, abstract LBA3. https://meetinglibrary.asco.org/record/161512/abstract

Anmerkung der Redaktion: Inhaltlich verantwortlich für die Texte auf hematooncology.com ist stets der unabhängige Autor des einzelnen Textes.


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  • Dr. med. Jürgen Wehmeyer
    Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und Onkologie, Münster