TKI-Therapie bei CML: Wann ist es genug?

Dr. med. Jürgen Wehmeyer, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und Onkologie, Münster

23.12.2016 – Die Einführung der Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) hat die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML) revolutioniert. Sie ist dadurch zu einer der am besten behandelbaren onkologischen Erkrankungen geworden. Die meisten Patienten erzielen eine gute molekulare Remission und dies ist, wie die Langzeitdaten der IRIS-Studie suggerieren, verbunden mit einer Normalisierung der Lebenserwartung. Die im Alltag bedeutsamste Frage hinsichtlich dieser Patienten ist angesichts der medizinischen und finanziellen Toxizität der Dauertherapie: Wann kann man die Behandlung absetzen, ohne dem Patienten zu schaden? Die dazu vorliegenden Untersuchungsergebnisse wurden bei der diesjährigen ASH-Tagung durch wichtige Studiendaten ergänzt. Und das Fazit lautet: Absetzen ist unter bestimmten Voraussetzungen sicher.

Angesichts der erfreulich hohen Anzahl von Patienten mit anhaltender molekulargenetischer Remission stellt sich die Frage: Brauchen alle diese Patienten dauerhaft die teure, manchmal auch subjektiv nebenwirkungsreiche und je nach Substanz mit relevanter chronischer Toxizität (z. B. Gefäßkomplikationen) behaftete TKI-Behandlung? Erste Daten dazu hatte die STIM-Studie mit 100 Patienten schon 2010 geliefert: 41% der Patienten, die nach mindestens zwei Jahren Imatinibtherapie in einer kompletten molekularen Remission waren, blieben nach Absetzen auch 12 Monate später ohne Therapie in Remission. Und – meines Erachtens noch wichtiger – alle Patienten, die rezidivierten, konnten erfolgreich erneut behandelt werden und erreichten überwiegend eine erneute komplette molekulare Remission [1].

Die ENESTfreedom-Studie, präsentiert auf der diesjährigen ASCO-Tagung, hat die Ergebnisse im Wesentlichen bestätigt: Hier hatten 51,6% der 190 Patienten, die unter Nilotinibtherapie für im Median 18 Monate mindestens eine MR4,5 erreicht hatten, auch 48 Wochen nach Pausieren der Therapie noch mindestens eine MMR ohne erneute Therapieerfordernis [2]. Von den 86 Patienten mit MMR-Verlust, bei denen die Nilotinibtherapie wiederaufgenommen wurde, haben 85 innerhalb weniger Wochen wieder gut angesprochen – die große Mehrheit mit einer erneuten MR4,5.

Und schließlich die Ergebnisse der großen EURO-SKI-Studie mit 772 auswertbaren Patienten (die allermeisten unter Imatinibtherapie zum Zeitpunkt des Therapiestopps), die erstmalig auf dem EHA 2016 präsentiert wurden [3]: Nach mindestens drei Jahren TKI-Therapie und mindestens 12 Monaten in MR4 oder besser waren 62% der Patienten 6 Monate nach Absetzen noch in einer anhaltenden molekularen Remission, nach 12 Monaten waren es noch 56%, nach 24 Monaten 52% und nach 36 Monaten noch 49% der Patienten (Abb. 1) [4]. Die Wahrscheinlichkeit, in einer anhaltenden Remission zu bleiben, war dabei nicht abhängig vom initialen Risikoscore (Sokal oder EUTOS).

Abb. 1: Dauerhafte Remission in der Mehrzahl der Fälle nach Absetzen eines Tyrosinkinaseinhibitors bei Patienten mit chronischer myeloischer Leukämie (CML) (modifiziert nach [4]).

Diese Ergebnisse haben aber bisher nicht zu einer Anpassung der ELN-Guidelines mit der Empfehlung zur dauerhaften TKI-Therapie geführt [5].

Das könnte sich demnächst ändern. Detaillierte Analysen der EURO-SKI-Studie und weitere Studienergebnisse haben bei der diesjährigen ASH-Tagung mit wichtigen Ergebnissen dazu beigetragen, folgende Fragen zu klären:

  1. Wie lange muss vor Absetzen vorbehandelt werden?
  2. Wie tief muss die Remission sein?
  3. Kann man mehrfach absetzen?
  4. Wie hoch ist die dauerhafte Remissionsrate nach Absetzen?
  5. Wann kommen die Rezidive?
  6. Wie häufig sollte kontrolliert werden?
  7. Gibt es unterschiedliche Erfolgsraten in Abhängigkeit vom eingesetzten TKI?
  8. Wie hoch ist die Erfolgsrate bei erneuter Therapie nach Rezidiv?

1. Wie lange muss vor Absetzen vorbehandelt werden?

Die Analyse der EURO-SKI-Studie zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für ein anhaltendes Therapieansprechen bei längerer TKI-Vorbehandlung größer ist. Bei einem Cut-off von 5,8 Jahren waren 65,5% der Patienten, die länger behandelt wurden, nach 6 Monaten Therapiepause noch in molekularer Remission – verglichen mit 42%, wenn kürzer vorbehandelt wurde [6].

2. Wie tief muss die Remission sein?

Patienten mit einem Ansprechen schlechter als MR4 wurden in keine Studie eingeschlossen. Die Auswertung der EURO-SKI-Studie zeigt nach Risikoadjustierung interessanterweise keinen Unterschied in der Wahrscheinlichkeit einer Progression zwischen Patienten mit noch nachweisbarer Erkrankung (52% in anhaltender Remission nach 6 Monaten) und kompletter molekularer Remission (57% in anhaltender Remission nach 6 Monaten) [4].

3. Kann man mehrfach absetzen?

Dieser besonders interessanten Frage sind die Autoren der STIM-Studie nachgegangen. Sie untersuchten die 67 Patienten, die nach Absetzen des TKI ein molekulares Rezidiv aufwiesen und erneut mit TKI behandelt wurden (43% bei Verlust der MMR, 55% schon bei Verlust der CMR, 73% mit Imatinib, 27% mit Second-Line-TKI) [7]. Nach im Median 31 Monaten wurde bei Patienten mit erneutem molekularem Ansprechen (85% wieder in CMR) ein zweites Mal die TKI-Therapie abgesetzt. Immerhin 44% der Patienten waren nach einer medianen Nachbeobachtungsdauer von 21 Monaten in einer anhaltenden therapiefreien Remission, wobei auch hier der überwältigende Teil der Rezidive in den ersten 6 Monaten nach Therapieende auftrat. Und auch hier besonders wichtig: Es gibt keinen Hinweis, dass dieses Vorgehen einem der Patienten geschadet hätte, der ein erneutes Rezidiv erlitten hat.

4. Wie hoch ist die dauerhafte Remissionsrate nach Absetzen?

Langzeitdaten aus der großen EURO-SKI-Studie liegen natürlich noch nicht vor. Aber alle Studien zeigen übereinstimmend, dass Rezidive in den allermeisten Fällen in den ersten 6 Monaten auftreten und Rezidive nach mehr als 2 Jahren offenbar äußerst selten sind. Das würde bedeuten, dass – in Abhängigkeit von der initialen Risikokonstellation (z. B. Dauer der Vorbehandlung) – 40 bis 60% der Patienten in mindestens MR4 eine Chance auf eine dauerhafte Remission nach dem ersten TKI-Absetzen haben.

5. Wann kommen die Rezidive?

Fast immer früh. In der STIM-Studie kam es bei 40 von 42 Patienten innerhalb der ersten 6 Monate dazu. In EURO-SKI sind ca. 90% der Rezidive, die nach 2 Jahren zu verzeichnen waren, in den ersten 6 Monaten aufgetreten.

6. Wie häufig sollte kontrolliert werden?

In den zitierten Studien wurden molekulargenetische Kontrollen initial alle 4 Wochen durchgeführt. Dies scheint zumindest in den ersten 6 Monaten nach Absetzen sinnvoll.

7. Gibt es unterschiedliche Erfolgsraten in Abhängigkeit vom eingesetzten TKI?

Ein direkter randomisierter Vergleich zum Absetzen nach unterschiedlichen Vortherapien existiert natürlich nicht. Die vorliegenden Daten ergeben keinen Hinweis darauf, dass es wichtig wäre, mit welchem TKI die tiefe molekulare Remission, die das Absetzen ermöglicht, erreicht wird. Zwei japanische Studien zum Absetzen nach Nilotinib und Dasatinib mit etwas unterschiedlichen Einschlusskriterien und Kriterien zur Wiederaufnahme der Therapie zeigen ähnliche Ergebnisse (59% mindestens weiter MR4,5 nach 12 Monaten Nilotinib-Pause bzw. 62% Therapiefreiheit nach 12 Monaten Dasatinib-Pause). Auch hier haben alle Patienten nach TKI-Reexposition wieder angesprochen [8, 9].

8. Wie hoch ist die Erfolgsrate bei erneuter Therapie nach Rezidiv?

Dies ist in den Abstracts leider nicht immer exakt angegeben. Da, wo Zahlen genannt werden, bewegen sie sich zwischen 95 und 100%. In keiner Studie wurde jemals auch nur von einem Patienten berichtet, der eine klinisch relevante Progression seiner Leukämie erlitten hat, weil er nach Reexposition unzureichend angesprochen hat.

Der letzte Punkt ist meiner Meinung nach entscheidend:

Das – gegebenenfalls auch wiederholte – Absetzen der Therapie ist sicher!

Natürlich müssen die Kriterien (Therapiedauer, Tiefe der Remission) wie in den Studien beschrieben und eine engmaschige molekulare Verlaufskontrolle eingehalten werden. Und natürlich gibt es noch keine absolute Gewissheit hinsichtlich der Sicherheit des Absetzens über Jahrzehnte, allerdings auch wenig hinsichtlich der potenziellen Langzeitschäden der Dauertherapie. Aber wenn wir unseren Patienten guten Gewissens sagen können, dass ihnen ein Absetzversuch nach allem, was wir heute wissen, nicht schaden wird, ist die dauerhafte Erfolgsquote im Prinzip nachrangig. Würden wir es denn bei 10% nicht trotzdem versuchen?

Was nehmen wir aus diesen Ergebnissen mit?

Ich mache es nach EHA 2016 und ASH 2016 außerhalb von Studien jetzt so:

  • Schon bei der Diagnose ein Gespräch mit dem Patienten über die Chance auf eine zeitlich begrenzte Behandlung
  • Therapiebeginn mit Imatinib (in der Mehrheit der Fälle erfolgreich und demnächst als Generikum deutlich preiswerter)
  • Vierteljährliche Kontrollen
  • Bei Unverträglichkeit und/oder nicht ausreichender Wirksamkeit gemäß ELN-Kriterien sofort Umstellung auf Second-Line-TKI (mir sind keine Daten bekannt, die eine Unterlegenheit dieses Vorgehens gegenüber einer sofortigen Second-Line-TKI-Therapie beweisen)
  • Minimales Therapieziel: MMR

Wenn nicht mindestens MR4 unter Imatinib:
Gespräch mit Patient über Therapieumstellung mit dem Ziel einer tiefen dauerhaften Remission und Absetzoption

Wenn MR4 oder besser (egal ob durch Imatinib oder Second-Line-TKI):
Weitere Behandlung über mindestens ein Jahr, bei durchgehender Remission MR4 oder besser: Gespräch über Absetzversuch

Wenn Absetzen:
PCR-Monitoring alle 4 Wochen in den ersten 6 Monaten, dann wieder vierteljährlich

Wenn Anstieg der Transkripte > 0,1% (Verlust der MMR):
Wiederaufnahme der zuletzt erfolgreichen Therapie

Wenn Anstieg der Transkripte, aber weiter mindestens MMR (z. B. aus MR5 auf MR4):
Einzelfallentscheidung: entweder sofortige Wiederaufnahme der Therapie oder kurzfristige Kontrollen und Therapie erst bei weiterem Anstieg bzw. Verlust der MMR

Ich bin sehr gespannt auf die nächste Version der ELN-Guidelines und die Empfehlungen der DGHO.

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Quellen

  1. Mahon FX et al. Discontinuation of imatinib in patients with chronic myeloid leukaemia who have maintained complete molecular remission for at least 2 years: the prospective, multicentre Stop Imatinib (STIM) trial. Lancet Oncol 2010; 11: 1029-1035.
  2. Hochhaus A et al. Treatment-free remission (TFR) in patients (pts) with chronic myeloid leukemia in chronic phase (CML-CP) treated with frontline nilotinib: Results from the ENESTFreedom study. J Clin Oncol 34, 2016 (suppl; abstr 7001).
  3. J. R et al. Stopping tyrosine kinase inhibitors in a very large cohort of european chronic myeloid leukemia patients: results of the EURO-SKI trial. Presidential Symposium: EHA 2016, Kopenhagen, abstract S145.
  4. Pfirrmann M et al. No Differences in Molecular Relapse-Free Survival after Stopping Imatinib Treatment of Chronic Myeloid Leukemia Between Patients with Prior 4.5 Log Reduction (MR4.5) but Detectable and Patients with Undetectable Disease in the EURO-SKI Trial. Blood 2016; 128: 789.
  5. Baccarani M et al. European LeukemiaNet recommendations for the management of chronic myeloid leukemia: 2013. Blood 2013; 122: 872-884.
  6. Mahon F-x et al. Cessation of Tyrosine Kinase Inhibitors Treatment in Chronic Myeloid Leukemia Patients with Deep Molecular Response: Results of the Euro-Ski Trial. Blood 2016; 128: 787.
  7. Pagliardini T et al. Second TKI Discontinuation in CML Patients That Failed First Discontinuation and Subsequently Regained Deep Molecular Response after TKI Re-Challenge. Blood 2016; 128: 788.
  8. Kadowaki N et al. Discontinuation of Nilotinib in Patients with Chronic Myeloid Leukemia Who Have Maintained Deep Molecular Responses for at Least 2 Years: A Multicenter Phase 2 Stop Nilotinib (Nilst) Trial. Blood 2016; 128: 790.
  9. Kumagai T et al. Discontinuation of Dasatinib after Deep Molecular Response for over 2 Years in Patients with Chronic Myelogenous Leukemia and the Unique Profiles of Lymphocyte Subsets for Successful Discontinuation: A Prospective, Multicenter Japanese Trial (D-STOP Trial). Blood 2016; 128: 791.


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  • Dr. med. Jürgen Wehmeyer
    Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Gemeinschaftspraxis für Hämatologie und Onkologie, Münster